Armut sichtbarer machen…

Elisabeth Baume-Schneider

Elisabeth Baume-Scheider, Bundesrätin und Vorsteherin des Justiz- und Polizeidepartements, eröffnet das Kolloquium Endlosschlaufe Armut: welche Verantwortung für unsere Gesellschaft? am 9. Mai 2023 in Bern.

Frau Elisabeth Baume-Schneider, Bundesrätin und Vorsteherin des Justiz- und Polizeidepartements, hat abwechselnd auf Deutsch und Französisch die folgende Rede zur Eröffnung des Kolloquiums „Endlosschlaufe Armut: welche Verantwortung für unsere Gesellschaft?“ gehalten, das ATD Vierte Welt am 9. Mai 2023 in Bern veranstaltet hat. Die Rede wird hier vollständig auf Deutsch wiedergegeben (unsere Übersetzung), ohne Untertitel oder Hervorhebungen.

Ein Jahrzehnt ist es her, dass Simonetta Sommaruga, Bundesrätin und damalige Vorsteherin des Justiz- und Polizeidepartements, gekommen ist, um die Entschuldigung des Bundesrats an die Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen zu überbringen. „All das ist geschehen, und nichts davon darf je wieder geschehen. (…) Dieser Gedenktag ist kein Ende, sondern der Beginn einer gründlichen Aufarbeitung eines dunklen Kapitels der Schweizer Sozialgeschichte“.

Ihre Worte drückten die Anerkennung der Erfahrungen und des Leidens der Betroffenen aus, die bedingungslose Achtung der Würde des Menschen, die Notwendigkeit, die Hoffnung auf Schutz nicht aufzugeben, und die Bedeutung der Rolle der Gemeinschaft, unserer Rolle als Bürgerinnen und Bürger. Diese Aussage ist hochaktuell und wir sind heute auf Einladung von ATD Vierte Welt hier zusammengekommen. Sie haben die Stärke der Entschuldigung anerkannt, euch aber nicht damit zufrieden gegeben, sondern unermüdlich die Arbeit wieder aufgenommen. Mit Methode, mit Respekt, mit Vertrauen, mit Offenheit, mit Beharrlichkeit, mit wissenschaftlicher Strenge, mit Humanismus haben sie die Arbeit fortgesetzt, das Wort erteilt, Fragen gestellt, euch getroffen, zugehört, einen Dialog geführt. Das heutige Kolloquium fasst drei Jahre Arbeit zusammen, die in einen wertvollen Co-Schreib-Prozess rund um das Projekt „Armut – Identität – Gesellschaft“ mündet. Wieder einmal geht es darum, zu erkennen, bevor oder anstatt zu bekämpfen. Handeln durch Respekt.

Dieses Jahr ist von einem weiteren bedeutenden Meilenstein geprägt, nämlich von unserem Gründungstext, der Bundesverfassung. Eben jene, die in ihrer Präambel festhält, dass die Stärke der Gemeinschaft am Wohl der Schwächsten ihrer Mitglieder gemessen wird, und in Artikel 8 festhält, dass niemand wegen seiner sozialen Lage diskriminiert werden darf. Wir feiern sie im Rahmen ihres 175. Jahrestages, und sowohl eure Arbeit als auch euer Engagement zeigen die Bedeutung dieses Artikels und den Weg, den wir mit unserer institutionellen und persönlichen Verantwortung gehen müssen.

Zu meinen Prioritäten als Bundesrätin gehört ganz entschieden das Thema Schutz. In meinem Departement trägt jedes Amt das Seine dazu bei: Das SEM in Migrationsfragen, fedpol im Bereich Sicherheit. Das Bundesamt für Justiz, das Ihr Projekt unterstützt – und darauf bin ich stolz – ist insbesondere für den Schutz der Kinder zuständig. Wir setzen uns konsequent gegen jegliche Form der Misshandlung ein – egal wer sie verübt, egal ob sie in einer institutionellen Einrichtung oder im privaten Rahmen passiert.

An der traditionellen Medienkonferenz anlässlich meiner ersten 100 Tage im Amt als Bundesrätin vor ein paar Wochen habe ich angekündigt, dass ich den Schutz gegen häusliche Gewalt verstärken will. Bis Ende Jahr soll eine Gesetzesvorlage vorliegen, welche die Pflicht der Eltern, ihre Kinder gewaltfrei zu erziehen ins Zivilgesetzbuch aufnimmt. Dieses klar geäusserte Vorhaben ist auf Kritik gestossen. Eine Bundesrätin für die Kinder, titelte eine deutschschweizer Zeitung. Dies wurde in den Sozialen Medien prompt aufgegriffen und ironisch ausgelegt, als gäbe es für mich nichts Wichtigeres zu tun… Aber genau so ist es! Die Schwächsten schützen – es gibt tatsächlich nichts Wichtigeres zu tun; es handelt sich sogar um einen Verfassungsauftrag. Die Kinder gehören zu den Schwächsten, und ich werde auch weiterhin für die Schaffung anständiger Gesetzesgrundlagen sorgen – zum Beweis, dass Kinder und vulnerable Menschen auch ohne Lobby die Hoffnung nicht aufgeben müssen, dass die Gesellschaft ihnen unter die Arme greift. In dieser Hinsicht verdient ATD Vierte Welt grossen Respekt: Die Bewegung ist eine wahre Inspiration. Seit ihrer Gründung durch Joseph Wresinski im Jahr 1957 hat sie unablässig für die Würde aller Menschen gekämpft, insbesondere für die Würde der Ärmsten. Ihre Mitglieder haben nie vergessen, wie wichtig es ist, einen umfassenden Dialog zu pflegen und konstruktiv nach Lösungen zu suchen.

Es ist dieser Rahmen, der das Projekt Armut – Identität – Gesellschaft so bemerkenswert macht. Wie das heutige Kolloquium haben sie Dutzende von Personen mit unterschiedlichsten Hintergründen an einen Tisch gebracht – ich sollte sagen, an dieselben Tische, da es so viele Workshops und Treffen gab. Sie haben Experten, Juristen, Wissenschaftler und Wirtschaftswissenschaftler in Ihre Überlegungen einbezogen. Sie haben Fachleute aus der Praxis eingeladen, Sozialarbeiter oder Mitarbeiter, die mit dem Schutz von Kindern zu tun haben. Vor allem aber haben Sie die ersten Betroffenen eingeladen, diejenigen, die oft zögern, das Wort zu ergreifen, die regelmässig kein Mitspracherecht haben, unter dem Vorwand, dass andere sicherlich genug oder sogar besser wissen als sie, was sie brauchen. Ich spreche natürlich von Menschen, die von Armut betroffen sind.

Indem Sie jeden Teilnehmer [des Forschungsprojekts „Armut – Identität – Gesellschaft“] dazu gebracht haben, dem anderen zuzuhören, in seinen Gewissheiten aufgerüttelt zu werden und seine Perspektiven zu erschüttern, haben Sie die Überlegungen auf spektakuläre Weise vorangebracht. Die Schlussfolgerungen, die uns auf diesem Kolloquium vorgelegt werden, nehmen eine besondere Form und Kraft an. Es handelt sich weder um einen Expertenbericht, noch um eine Reihe von Beobachtungen, noch um eine Sammlung von Zeugenaussagen. Es geht um all dies gleichzeitig.

Weit entfernt von autarkem Denken und die Versuchung zurückweisend, nur für sich selbst zu denken, ist das Projekt Armut – Identität – Gesellschaft eine Vermischung von Wissen, das sich lange Zeit ignoriert, manchmal sogar abgelehnt wurde, und das heute zusammengeführt wird. Meines Wissens ist dies in dieser Grössenordnung eine Premiere.

Wie Sie selbst am besten wissen, ist das erste, was eine Gesellschaft tun muss, um gegen Armut vorzugehen, sie anzuerkennen und ihre Realität zu akzeptieren. Im Jahr 2020 zählte das Bundesamt für Statistik mehr als 700’000 von Armut betroffene Menschen in der Schweiz, eine Zahl, die in den letzten zehn Jahren fast stetig gestiegen ist. Diese Zahl spiegelt [jedoch] nicht die Realität wider, denn Armut lässt sich nicht nur auf wirtschaftlicher Sicht beschränkt in ein Korsett pressen. Es geht darum, die sozialen Ungleichheiten zu berücksichtigen. Es handelt sich nicht um ein Phänomen am Rande der Gesellschaft, sondern um eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung.

Der Soziologe Pierre Bourdieu schrieb 1964 in seinem Werk Les Héritiers (Die Erben): „Die Blindheit gegenüber sozialen Ungleichheiten verurteilt und berechtigt dazu, alle Ungleichheiten, insbesondere im Bereich des Schulerfolgs, als natürliche Ungleichheiten, Ungleichheiten der Begabungen, zu erklären“. Das heutige Kolloquium trägt dazu bei, dass Blindheit keine befriedigende Antwort ist.

Nur allzu häufig werden in Armut lebende Menschen auch in ihrer Würde verletzt. Ständig müssen sie sich rechtfertigen: Nein, sie sind nicht schuld an ihrer misslichen Lage. Und ja, sie bemühen sich, ihr Elend zu überwinden. Sie kämpfen gegen Stereotypen, Schuldzuweisungen und Schamgefühle an. Gleichzeitig müssen sie regelmässig die paradoxen Erwartungen der Gesellschaft erfüllen: Einerseits sollen sie verantwortungsvoll und selbständig leben und beweisen, dass sie es schaffen wollen; andererseits müssen sie ihre Bemühungen ständig belegen und unzählige Kontrollen über sich ergehen lassen. Auch die Menschen in der Sozialarbeit stehen unter Druck. Die Verantwortlichen in der Politik haben dafür zu sorgen, dass die gesetzlichen Grundlagen und deren Umsetzung zusammenspielen und dass der Wille des Gesetzgebers mit den Gegebenheiten in der Praxis übereinstimmt.

Ihre Tagung hebt ein wesentliches Element hervor. Armut zu überwinden bedeutet auch, zu verhindern, dass sie weitergegeben wird. Wenn Resilienz kein magischer Gedanke ist, dann ist Fatalismus definitiv keine Option. Wenn wir präventiv handeln, uns von Pilotprojekten und bewährten Praktiken inspirieren lassen, können wir geeignete Antworten finden, um Wünsche, Möglichkeiten und Projekte zu eröffnen.

Der Ethologe und Neuropsychiater Boris Cyrulnik sagt: „Miserabilismus und die Unterwerfung unter die Vergangenheit sind nicht tragbar: Wenn er missbraucht wurde, wird er zum Misshandler… Wenn er aus einem Armenviertel kommt, hat er keine Chance, es zu schaffen… Das ist ein selbsterfüllender Fixismus: Da man voraussieht, dass die Dinge auf eine bestimmte Art und Weise geschehen werden, tut man nichts, und da man nichts tut, erfüllen sie sich tatsächlich gemäss der Prophezeiung“. Handeln liegt in unserer Verantwortung.

Kinder, die in Armut aufwachsen, starten stark benachteiligt ins Leben. Sie erleben die Stigmatisierung ihres Elternhauses, werden nach Vorurteilen schubladisiert. Und, ich zitiere sinngemäss aus dem Forschungsbericht, „man kann nicht mehr davon träumen, Kosmonaut zu werden; denn wer arm ist, muss sich mit Armenträumen begnügen“. Diese Ermattung, dieses Schuldgefühl, das die Eltern überwältigen kann – das ist nicht einfach ein Problem des Einzelnen, das sich mit gutem Willen lösen lässt; das ist kein Randproblem in unserer Wohlstandsgesellschaft. Entsprechend braucht es hier strukturelle Lösungsansätze.

Erlauben Sie mir abschliessend, Ihnen ganz herzlich zu danken. Ihr Engagement, Ihr Nachdenken, Ihr Wirken verdient und erhält Anerkennung. Ihre Lösungswege sind eine bedeutende Quelle der Inspiration in den vier Handlungsfeldern (Politik und Rechtsetzung, Gesellschaft und Öffentlichkeit, Institutioneller Rahmen, Wissenschaft und Bildung).

Dieser Tag ist wie ein Kompass geplant, das ist eine schöne Perspektive. Ich bin sicher, dass wir mit neuem Wissen, neuer Anerkennung, neuen Fragen und neuer Energie bereichert werden, um auf die Bürgerbeteiligung zu vertrauen, um einen Beitrag zu leisten, damit Armut keine Endlosschleife oder eine Spirale ist, die ausstösst und ausschliesst, sondern eine Spirale, aus der man nach oben herauskommt, mit Stücken wiedergewonnener Würde.

Bei einer Veranstaltung im Jura, als ich noch Bildungsministerin war, hat mich eine Person von ATD Vierte Welt tief beeindruckt, als sie mir sagte: „Helfen Sie uns, Menschen zu sein, die zählen“. Ich danke Ihnen, dass Sie dazu beitragen. Jeder Mensch in unserem Land muss denken können, dass er für einen anderen Menschen zählt, dass er für uns zählt.